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Ein Schauspiel für Götter

Der Muskel arbeitet wie eine Dampfmaschine

 

Der Muskel

Lothar Müller

Kommentar Henning Schmidgen

Kommentar M. Norton Wise

Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung

14. 06.05

Martin Kemp, Nature 436, 917

18.08.05

 

 

Der Muskel arbeitet wie eine Dampfmaschine

Lothar Müller

Der deutsche Klassizismus, so sagt eine alte Legende, hat das Land der Griechen immer mit der Seele gesucht. Die antiken Göttergestalten vor Augen, hat er sich aus der politischen Welt und aus der beginnenden Industrialisierung in ein Reich des Schönen hinausgeträumt. Aus dem Enthusiasmus, mit dem im 18. Jahrhundert Johann Joachim Winckelmann, das Ideal höchster Schönheit beschworen hatte, wich im 19. Jahrhundert mehr und mehr das Leben, der Klassizismus trat in das Stadium der akademischen Erstarrung und der gipsernen Repliken ein. Eine faszinierende Kabinettausstellung im Medizinhistorischen Museum der Berliner Charité zeigt derzeit die sehr irdische, sehr vitale Seite des Klassizismus: sie zeigt, wie Apoll, der Gott der Musen, im 19. Jahrhundert ins Labor einzog, sie zeigt den Klassizismus als Katalysator der Wissenschaft.

Weiße Büsten empfangen den Besucher, ein Ölgemälde von Wilhelm Ahlborn paraphrasiert Karl Friedrich Schinkels „Blick in Griechenlands Blüte“. Aber die südliche Ideallandschaft mit Säulen, Friesen, Tempeln und Denkmälern grenzt unmittelbar an das Berlin des mittleren 19. Jahrhunderts. Der Kopf vom Typus Belvedere in Rom, den Winckelmann in Zentrum seines Kanons des klassischen Schönen gerückt hatte, ist ein Abguss aus Gips. Aber er steht hier in einem Ensemble, das ihn belebt, ihn in ein Spannungsfeld setzt: von der Decke hängen Ringe wie in einer Turnhalle, von den Büsten fällt der Blick auf Elektrisierapparate und ein Dampfmaschinenmodell. An der Wand präsentiert eine große Vitrine systematisch angeordnete Präparate aus der anatomischen Sammlung der Charité.

Dieses Nebeneinander von Kunst, Körperertüchtigung und wissenschaftlichen Apparaturen entspringt nicht dem Geist eines Kuriositätenkabinetts. Es hat ein organisiertes Zentrum: das Laboratorium des großen Berliner Physiologen Emil DuBois-Reymond (1818-1896). Er war in den 1840er Jahren, während er seine „Untersuchungen zur thierischen Elektrizität“ vorantrieb, ein führendes Mitglied im Berliner Turnverein und trat selbst bei Turndemonstrationen vor das Publikum. Sein Experimentieren, festgehalten im hier ausgestellten Labortagebuch, und seine Turnübungen hatten ein gemeinsames Motto: „Selbstvervollkommnung durch Übung“. Nicht nur an den Märtyrern der Wissenschaft, den Fröschen, verfeinerte er die Messverfahren für den elektrischen Strom, der mit der Muskelkontraktion einherging. Bei seinen Experimenten mit dem „Multiplikator“, einem eigens für ihn gebauten Registrier- und Messgerät für elektrische Ströme, spielten seine eigenen Muskeln und Nerven die Hauptrolle.

Eine Leibesübung

In der zylindrischen Glasglocke dieses empfindlichen Gerätes sind an Seidenfäden zwei Magnetnadeln aufgehängt. Die untere schwebte in einer Kupferdrahtspule, die obere über einer in Winkelgrade geteilten Skala. Der Experimentator hat durch Anspannung aller seiner Armmuskeln eine messbare Nadelabweichung im „Multiplikator“ hervorzubringen. Sein Experiment ist eine Leibesübung. Zugleich ist es eine moderne Entsprechung zum klassischen Schönen. In den Instrumenten, die er verwendete, sah DuBois-Reymond Verkörperungen der „mechanischen Schönheit“, und im Experimentator eine lebendige Statue, der in Winckelmanns Apoll das Maß der Selbstvervollkommnung gesetzt war.

Diese enge Nachbarschaft und wechselseitige Durchdringung von Ästhetik, physiologischem Experiment und hochentwickelter Feinmechanik mag uns, nach über 150 Jahren fortschreitender Spezialisierung und Ausdifferenzierung von Kunst, Wissenschaft und Industrie als kurios erscheinen. Doch macht die Ausstellung schlagend klar, wie produktiv die „Ästhetik des Experiments“, die sie rekonstruiert, im frühen 19. Jahrhundert war. Als ein Dreieck von Orten auf dem Berliner Stadtplan lässt sich ihr Grundriss beschreiben: zwischen dem von Schinkel erbauten, 1830 eröffneten Museum am Lustgarten, dem Laboratorium um DuBois-Reymonds in seiner Wohnung und den Räumen der Firma Bötticher&Halske, in denen der Feinmechaniker Johann Georg Halske (1814-1890) den „Multiplikator“ baute, gehen die Energieströme hin und her, die den Apoll im Labor hervortreten lassen.

„Er hat den Python mit Pfeilen, die nicht fehlen können, erlegt, und siehet auf das Ungeheuer von der Höhe seiner Genügsamkeit, wie vom Olymp herab... Zorn schnaubet aus seiner Nase, und Verachtung wohnet in seinen Lippen“, hatte Winckelmann über den Apoll im Belevedere geschrieben. Für Emil DuBois-Reymond war der Drache, den es zu erlegen galt, der Vitalismus des 19. Jahrhunderts, der im Blick auf die Experimente zur tierischen Elektrizität, von Alessandro Volta über Galvani bis zu Johann Wilhelm Ritter stets auf der Suche nach der „Lebenskraft“ war. Diese Lebenskraft machte der Apoll im Labor den Garaus, und mit Befriedigung sah DuBois-Reymond in seinen Experimenten ihren Geist aus der Physiologie verfliegen: „Es ist ein Schauspiel für Götter, den Muskel arbeiten zu sehen wie den Zylinder einer Dampfmaschine.“

Mit einer Fülle von Exponaten erzählt diese Ausstellung die Geschichte vom Verdampfen des Klassizismus im 19. Jahrhundert: man sieht, wie er den Experimentator beflügelt, bis am Ende nur noch die „mechanische Schönheit“ der Instrumente und Apparaturen übrig bleibt. Apoll kann zur Erinnerung verblassen, wenn Wissenschaft und Technik zu sich selbst gefunden haben.

Das dies eine exemplarische Geschichte ist, zeigt die Ausstellung im Blick auf den früh verstorbenen, längst vergessenen Zeitgenossen DuBois-Reymonds: den Architekten und Maler Anton Hallmann (1814-1842). Auch er ging vom klassischen Schönen aus, vom Alten Museum, aber auch vor allem von Schinkels Bauakademie als dem Modell einer künftigen Architektur, „die dem Gewimmer nach verlorenen Paradiesen“ eine Absage erteilt. Während DuBois-Reymond im Innenleben seiner Instrumente Entsprechungen zur Anatomie lebendiger Körper sah, suchte Hallmann in seinen hinreißenden anatomischen Zeichnungen und seinen surrealistisch wirkenden Stillleben geometrischer Formen nach Entsprechungen zwischen der „organischen Schönheit“ des menschlichen Körpers und den Gesetzten der Tektonik.

Aus seinen Gegenüberstellungen von Beinen und Säulen, Rümpfen und Wänden, Schädeln und Dächern spricht eine frühe Kritik alles Ornamentalen, die Sehnsucht nach dem Zugleich von Zweckmäßigkit und Schönheit eines jungen Architekten, der in Berlin nicht bauen durfte, weil ihm das Staatsexamen fehlte. So flüchtete er nach Italien und starb dort, nicht weit entfernt von Winckelmanns Apoll, am Sumpffieber.