Der Muskel
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Der Muskel
arbeitet wie eine
Dampfmaschine
Henning Schmidgen
Beine und Säulen, Rümpfe und Wände, Schädel und Dächer; Muskeln, Knochen und Adern einerseits, Zylinder, Quader und Würfel andererseits; hier die Scharnierstellen des menschlichen Körpers, dort die Elementarteile künstlicher Bauten. Die in dieser Ausstellung gezeigten Zeichenstudien Anton Hallmanns fordern dazu auf, die Anatomie in der Architektur und die Architektur in der Anatomie zu sehen. Sie eröffnen ein schattiges Terrain, in dem das Körperliche ins Bauliche, das Organische ins Tektonische, das Natürliche ins Künstliche (und umgekehrt) übergeht. Ein preußischer Wiedergänger Arcimboldis ist Hallmann allerdings nicht. Er ist weit davon entfernt, das Antlitz des Menschen aus natürlichen und künstlichen Dingen heraus- oder in bebaute Landschaften hineinzulesen. Der Freund von DuBois-Reymond malt keine synthetischen Porträts. Er zeichnet, d.h. er konzipiert und gestaltet. Seine Studien erschließen, was noch jedem Gesichtseffekt, selbst wenn er aus einem Mosaik der Dinge resultiert, zugrunde- und vorausliegt: zum einen Knochen-, Gefäß- und Organsysteme, eine ganze fabrica unter der Haut, zum anderen menschenleere Räumlichkeiten, scheinbar wahllose Verteilungen einfachster Bauelemente. Kein Manierist also, sondern ein Maschinist ist hier an der Arbeit: jemand, der das Diesseits und das Jenseits der Menschengestalt erschließt und entwirft, um zu neuartigen Verbindungen zwischen inneren und äußeren Organen vorzustoßen. Daher die Spannung dieser Studien: Der heutige Betrachter meint, daß jeden Augenblick eine Lokomotive à la Giorgio de Chirico durch den Bildhintergrund fahren müßte. Statt dessen wartet auf ihn nur eine Leiter, und die scheint so kurz zu sein, daß zwar an ein Hinaufsteigen, nicht aber ans Wegwerfen zu denken ist. Kein Ausweg, sondern nur Felder des Disparaten, gesichtslos.
Im alten Streit um die richtige Lesweise der Vitruvschen Architekturbücher beziehen die erhaltenen Blätter deutliche Position. So wie Barbaro geht Hallmann davon aus, daß Vitruv, wo er von Perspektive spricht, nicht scenographia, sondern sciographia meint. Schattenmalerei war also das Ziel, das verfolgt, die Aufgabe, die befolgt wurde - und wahrscheinlich nicht nur, um Fingerübungen in projektiver Geometrie zu komplizieren, sondern auch um die architektonischen Elementarteile nicht vom Leben abzutrennen. Freilich, nur ausnahmsweise ist es die Sonne, die die verstreuten Säulen, Pyramiden und Kugeln erhellt. In der Regel ist es Kerzenlicht, mit dem die Verteilungen der Baukörper gleichsam von innen aus beleuchtet werden. Doch in den Schatten kann man jene Wesen erahnen, die die späteren Bauten bevölkern sollten. Sie warten nur darauf, aus dem Dunkel ins Freie, ins Helle zu treten. Mitten in der Nacht, auf dem menschenleeren Platz einer großen Stadt, hat man die zentral postierte Heldensäule in Brand gesetzt, und zwar am oberen Ende. Der Held ist zur Fackel geworden, aber noch hat es keiner bemerkt, noch schlafen alle. Bis die Maßstäbe sich verkehren. Der große Platz wird zu einem Tisch, das Äußere ins Innere gewendet, helle Wachheit macht sich breit. In einem Zimmer probiert der konzentrierte Zeichner unterschiedlichste Anordnungen von Körpern und Lichtern aus. Hallmanns Studien zeigen auch dies: den Experimentiertisch des Architekten.
Die Gesichtslosigkeit, die diese Bilder
greifbar machen, ist nur scheinbar ausweglos. Tatsächlich
erhellt sie die Rechte des Prozesses vor dem Produkt, des Werdens
vor der Zeit, der Differenz vor der Wiederholung. Nur ein Bruchteil
der Zeichnungen, die Hallmann während seines Studiums und
auf seinen Reisen angefertigt hat, sind erhalten. Die hier gezeigten
werden so zu Standbildern aus der laufenden Arbeit in einem Atelier,
einer Werkstatt. Sie stellen Stadien vor Augen, deren weitere
Entwicklung kaum abzuschätzen ist. Es läßt sich
nur spekulieren, zu welchen Bauten diese Studien hätten
führen können. Im Rückblick erscheinen sie als
Vorstufen zu einer Architektur, die Gebäude und Bewohner,
künstliche und natürliche Körper umfassen sollte,
während „Schönheit“ sich im übergreifenden Zweck
kristallisierte - so wie bei dem von Hallmann geplanten, aber
niemals realisierten Eisendom für Berlin. Buchstäblich
vor-gezeichnet ist somit der Weg zu einer „architekturalen Aussage“ (Guattari),
einem architektonischen Objekt, das sich von seiner städtischen
Umgebung absetzt, um diese im eigenen Inneren einzuholen, wieder
zu erschaffen und neu zu erfinden: im Sinne eines Metabolismus,
der gleichermaßen durch Fabrikhallen wie durch Gärten,
durch Flüsse wie durch Straßen, durch Telegraphenkabel
wie durch Nervenfasern geprägt ist. Es fehlt allein der
zündende Funke, der die statischen Verteilungen in Bewegung
versetzt, sie „maschinisiert“ und so die anatomische Architektur
ins Physiologische übergehen läßt. |